Dora Ratjen

Heinz Tödtmann

 

Dora Rathen kommt am 20. November 1918 in Erichshof zur Welt. Sie wächst dort auf, geht auf die Mädchenschule, zeigt aber schon bald ein besonderes Talent für den Hochsprung. Sie geht in einen Sportverein und ist dabei äußerst erfolgreich. Sie ist sogar so erfolgreich, dass sie an den olympischen Spielen in Berlin 1936 teilnehmen kann. Sie belegt dort den 4. Platz. Zwei Jahre später springt sie in Wien sogar mit 1,70m einen Weltrekord.

Als sie sich am 21. September 1938 auf der Rückreise nach Köln befindet, hält der Zug auf dem Bahnhof in Madgeburg. Dora steigt aus und vertritt sich ein wenig die Beine. Und plötzlich sieht sie sich einem Polizisten, dem Kriminalsekretär Sömmering, gegenüber, der von ihr die Papiere verlangt. Dieser erklärt, vom Schaffner einen Hinweis erhalten zu haben, dass im Zug eine Frau sitzen würde, die nach seiner Meinung ein Mann sei. Der Polizist sieht sich dabei Dora genau an und ihm fallen die stark behaarten Hände von Dora auf. Er fordert Dora daraufhin auf, den Koffer aus dem Zug zu holen und ihm auf die Wache zu folgen. Der Sportausweis, den ihm Dora vorlegt, reicht ihm nicht und er fragt Dora ganz direkt, ob sie nun eine Frau oder ein Mann sei.

Eine derartige Frage ist Dora bisher noch nie gestellt wurden, daher lehnt sie die Antwort barsch ab. Der Polizist hingegen bleibt bei seiner Einschätzung und stellt die Untersuchung durch einen Polizeiarzt in Aussicht. Nun sieht Dora keinen anderen Ausweg als zuzugeben, dass sie männlichen Geschlechts sei. Dora wird festgenommen und einem Polizeiarzt zugeführt. Dieser notiert am 22. September:

Sekundäre Geschlechtsmerkmale durchaus männlich. Genannte Person ist einwandfrei als Mann anzusprechen. […] Ein derber Narbenstrang, der sich von der Unterseite des Penis ziemlich breitflächig nach hinten erstreckt. Es erscheint fraglich, ob aufgrund dieses Narbenstranges ein einwandfreier Geschlechtsverkehr ausgeübt werden kann.“

Noch am gleichen Tag geht ein Funkspruch nach Berlin:

 

Die Europameisterin im Hochsprung Ratjen, Vorname Dora, ist kein Mädchen, sondern ein Mann. Bitte Reichssportbehörde sofort in Kenntnis setzen. Funkantwort, was geschehen soll.“

 

Anfangs ist man der Auffassung, dass Dora bewusst betrogen hat, und so nimmt man ihr zuerst einmal die Goldmedaille weg, die sie in Wien erhalten hat. Damit war einer der größten Sportskandale perfekt.

Die Verantwortlichen in Berlin reagieren sofort und fordern, dass Dora im Sportsanatorium Hohenlychen weiter untersucht wird. Aber auch dort kommt man zu dem gleichen Ergebnis. Das Ermittlungsverfahren wegen Betrugs wird aber erst am 10. März 1939 eingestellt. Der Oberstaatsanwalt:

Der Tatbestand des Betruges entfällt, weil die Absicht, sich einen Vermögensvorteil zu verschaffen, nicht festgestellt werden kann.“

Er führt weiter aus, dass Dora zu keinem Zeitpunkt einen entsprechenden Hinweis erhalten habe und Beschäftigung und Umgang der einer Frau gewesen sei.

Als das alles öffentlich war, haben ich sehr viele Menschen, Ärzte und Journalisten mit diesem Fall beschäftigt und sich die Frage gestellt: Wer trägt die Verantwortung für diesen Betrug? Waren es die Nazis, die Familie oder Dora selbst? 70 Jahre nach diesem Vorfall lief in den deutschen Kinos ein Film mit dem Titel "Berlin 36". Aber anders als in diesem Film gehen die Fachleute davon aus, dass den Nazis keine direkte Schuld zugewiesen werden kann und auch sie die Wahrheit erst im Nachhinein erfahren haben.

Alles nimmt seinen Anfang mit der Geburt am 20. November 1918 in Erichshof. Bei den Eltern handelt es sich um einfache Leute, das Einkommen reicht mal gerade zum Leben. Die Ratjens haben bereits drei Töchter, als Mutter Ratjen mit Dora wieder schwanger war. Wie üblich handelt es sich hier um eine Hausgeburt. Aus diesem Grund ist auch kein Arzt, sondern nur eine Hebamme anwesend. Als Dora zur Welt kommt, kann sie aber nicht zweifelsfrei das Geschlecht bestimmen. Der Vater gibt später zu Protokoll:

Bei der Niederkunft meiner Frau habe ich nicht direkt neben deren Bett gestanden, vielmehr hielt ich mich in diesem Augenblick in der Küche auf. Nachdem das Kind geboren war, rief mir die Hebamme zu: ´Heini, es ist ein Junge!´ Nach fünf Minuten sagte sie aber wieder zu mir: Es ist doch ein Mädchen!´“

Die Eltern sehen sich das Neugeborene an und haben Zweifel, letztendlich aber vertrauen sie auf das Wort der Hebamme. Die Hebamme meldet die Geburt beim Gemeindevorsteher und beim Pastor an und so wird die Neugeborene auf den Namen Dora getauft. Nach 9 Monaten bekommt Dora eine Rippen- und Lungenentzündung. Als der Arzt kommt, bittet der Vater ihn, das Geschlechtsteil von Dora einmal zu untersuchen, weil er der Auffassung war, dass damit nicht alles in Ordnung wäre. Der Arzt nimmt die Untersuchung vor, kommt aber zu dem Schluss: "Dat loot man, dor kanns nix an mook’n!“ So jedenfalls erinnert sich der Vater später.

Dora wächst als Mädchen auf, trägt Kleider und geht auf eine Mädchenschule. 1932 wird sie konfirmiert aber in dieser Zeit wird Dora bewusst, dass irgendetwas nicht mit ihr in Ordnung ist. Bei der Polizei sagt sie später aus:  

Von meinen Eltern bin ich als Mädchen großgezogen.[…] Ich habe also von meiner Kindheit an Mädchenkleider getragen. Von meinem elften oder zwölften Lebensjahr an kam mir schon das Bewusstsein, dass ich kein Mädchen, sondern ein Mann war. An meine Eltern habe ich aber niemals die Frage gestellt, warum ich als Mann Frauenkleider tragen muss.“

 

Letzte Gewissheit erhält Dora, als ihr keine Brüste wachsen wie den anderen Mädchen, sie aber erste Samenergüsse erlebt. Aber ihr Schamgefühl ist zu groß, als darüber zu reden. Man muss dabei auch berücksichtigen, dass das Thema Sexualität in dieser Zeit ein absolutes Tabu ist. Also schweigt Dora. Stattdessen glaubt sie, ihr Schicksal annehmen zu müssen.

 

So wird ihr Leben zu einem Versteckspiel. Sie erkennt ihre große Begeisterung für den Sport. Als sie die Schule verlässt, wird sie Packerin in einer Tabakfabrik, was für damalige Verhältnisse völlig normal ist. Sie wird Mitglied im Sportverein Komet Bremen und ist bald eine der Besten im Hochsprung. Ab 1934 ist sie mehrere Male Gaumeisterin und 1936 deutsche Meisterin im Hochsprung.

 

In dieser Zeit bereitet sich Deutschland auf die Austragung der Olympischen Spiele in Berlin vor. Anfangs haben die Nationalsozialisten noch ein Problem damit, dass auch Frauen daran teilnehmen wollen. Das Problem ist aber bald gelöst, weil Hitler beweisen will, dass die Deutschen in allen Disziplinen die Besten sind. Allein aus diesem Grund ist ihm die Nationenwertung besonders wichtig und so werden die  Besten im Hochsprung, Margaret Bergmann, Dora Ratjen und Elfriede Kaun nominiert.

 

Margaret Bergmann ist  in dieser Zeit die Weltbeste und hat bereits 1,60 m gesprungen. Das ist neuer deutscher Rekord und würde wahrscheinlich die Goldmedaille bedeuten. Margaret Bergmann ist aber Jüdin und die Amerikaner haben damit gedroht die Olympischen Spiele in Berlin zu boykottieren, wenn Deutschland keine Juden in ihrer Mannschaft aufnehmen. Daraufhin versprechen die Deutschen, keinen wegen seiner Rasse, seiner Religion oder Hautfarbe auszuschließen. Um das zu beweisen, wird Margaret Bergmann ausdrücklich nominiert.

 

Als aber die Amerikaner bereits auf dem Weg nach Berlin sind, wird Frau Bergmann dennoch ausgeschlossen und Dora Ratjen wird nominiert. 75 Jahre später erinnert sich Margaret Bergmann:

 

„…Ich habe nie einen Verdacht gehabt, nicht ein einziges Mal. In der Dusche haben wir uns alle gewundert, dass sie sich nie nackt zeigte, mit 17 noch so schüchtern, es war grotesk. Wir dachten nur: Die ist seltsam, die ist schräg. Es gab eine Tür zu einem privaten Badezimmer, wir durften nicht hindurchgehen, nur Dora durfte. Aber geahnt habe ich nichts, viele, viele Jahre nicht.“[…] Ich habe bis 1966 nichts gewusst. Da habe ich beim Zahnarzt gesessen und in „Time“ die Geschichte vom Hochsprung-Betrug von 1936 gelesen. Ich musste kreischen und lachen, und alle in der Praxis hielten mich für irre. Ich habe Dora einen Brief geschrieben und nie eine Antwort erhalten.“

Man muss allerdings berücksichtigen, dass die Sportler zu diesem Zeitpunkt noch Amateure sind und nur für kurze Zeit sich in Trainingslagern vorbereiten. Auch Elfriede Kaun, Doras Sportkameradin, ist nicht informiert worden und hegt auch keinen Verdacht:

Ich hatte zu ihr ein besonders gutes Verhältnis, in den Trainingslagern, auf Reisen, bei Wettkämpfen, aber niemand hat etwas gewusst oder gemerkt von ihrer geschlechtlichen Sonderrolle.“

Dora nimmt an den Wettkämpfen teil und wird Vierte mit einer Höhe von 1.58 m. In dem Film, den Leni Riefenstahl von den Olympischen Spielen in Berlin gemacht hat, ist Dora auch zu sehen. Als der Skandal 1938 aufgedeckt wird, ist Dora froh, dass der ganze Spuk für sie vorbei ist. In einem Polizeiprotokoll heißt es:

Ratjen gibt unumwunden zu, froh zu sein, dass nun alles zum Klappen kommt. […] Er hat diesen Zeitpunkt schon seit längerer Zeit erwartet, denn er war sich darüber klar, dass eines Tages die sportliche Betätigung als Frau nicht mehr tragbar sein wird.“

Dora wird auferlegt, den Namen Heinrich Ratjen anzunehmen, eine Regelung, mit der der Vater anfangs überhaupt nicht einverstanden ist:

dass Dora unter keinen Umständen Männerkleidung tragen dürfe... Er dulde auf keinen Fall, dass Dora einen männlichen Beruf ergreife“.

Am 11. Januar 1938 aber werden die amtlichen Urkunden entsprechend geändert und am 10. März 1939 stellt die Staatsanwaltschaft Magdeburg das Verfahren ein.

Der Tatbestand des Betruges entfällt, weil die Absicht, sich einen Vermögensvorteil zu verschaffen, nicht festgestellt werden kann“.

Fredy Hohnhorst, Spielkamerad aus Kinderzeiten erinnert sich:

Dora und ich waren unzertrennlich. Wir waren in einer Klasse und haben alles zusammen gemacht. Früher war ich immer der Kleinste, aber Dora hat mich bei Schlägereien immer verteidigt. Sie war sehr stark und konnte viel besser klettern als ich. Trotzdem hat sie immer wie ein Mädchen gewirkt und Röcke getragen, wie es damals für Mädchen üblich war.“

Er bestätigt, dass niemandem - auch ihm nicht - damals etwas aufgefallen ist. Die Eltern sind in dieser Zeit zwischenzeitlich von Erichshof nach Seckenhausen umgezogen, wo der Vater eine Gastwirtschaft gepachtet hat. Heute steht dort das Hotel und Restaurant Kreuz-Meyer. Später ist die Familie nach Bremen ungezogen und der Vater hat dort am Buntentorsteinweg eine Gaststätte geführt. Diese Gastwirtschaft hat Dora - nun als Heinrich Ratjen - übernommen und etliche Jahre geführt. Einen intensiven Kontakt zu den Freunden aus Kindertagen kann er nicht mehr knüpfen. Gertrud Warnke erinnert sich:

Mich hat er auch zu sich eingeladen. Ich habe gern mit ihr gespielt, aber meistens war sie auf dem Fußballplatz mit Fredy und den anderen Jungs zusammen. Die Einladung habe ich nicht wahrgenommen, weil sie mir als Mädchen bekannt war und ich nicht wußte, wie ich mich verhalten soll.“

 

Heinrich Ratjen, zuletzt wohnhaft in der Waterloostraße 85, stirbt 2008.