Wie die Leesterin Wilma Schierenbeck das Ende des Krieges erlebte
W e y h e - L e e s t e . Das „Augenzeuge“-'l'hema Kriegsende beschäftigt unsere Leser sehr. Und Wilma Schierenbeclk aus Leeste gehört zu den Frauen, die zu Hause waren, als der Krieg zu Ende ging. Sie berichtet uns: „Es war an einem Sonntag, als am 9. Aprll 1945 wir Einwohner von Leeste merkten, was Krieg heißt. Bomben und Fakgesclıützdonner waren wir ia seit fiinf Jahren gewohnt. Viele Einwohner hatten sich damals in Eigenarbeit Privatbunker gebaut, so auch wir. Wir waren sechs Familien darunter acht Kinder zwischen sechs Monaten und zwölf Jahren. Es war ein Bilderbuchfrühling. Alles stand in voller Blüte. Zwei Wochen hatten wir sommerliche Temperaturen. Die Gärten waren bestellt, denn die Bauern meinten, daß das Saatgut, was in der Erde ist, der uns einnehmende Feind nicht mehr plündern kann.
An dem bewußten Sonntag hatten wir, wie so oft, im Bunker geschlafen. Femes Geräusch. wie Donnergrollen, kam näher. Es ging ein Aufatmen durch unsere Reihen, denn nun war Aussicht, daß der unselige Krieg für uns ein Ende nehmen würde. Von Kírchweyher Seite kam der Angriff. In den Gefechtspausen setzten wir uns mit den Kindern an die Westseite des Bunkers in die Sonne. Gegen Abend kamen die Panzer näher. Nun waren in Leeste, sehr zum Verdruß der älteren Leute noch 80 Soldaten eingesetzt, darunter auch SS-Männer. Einige waren fast noch Kinder. Auf dem Bauernhof, wo unser Bunker war, war jeden Morgen Appell. Es wurde ihnen immer noch von der Wunderwaffe erzählt. Kamen sie abends zurück, waren es immer ein paar weniger. Die, die fehlten, lagen dann unter einer Zeltplane auf der Diele - tot.
Mein Schwiegervater sagte mehr als einmal: „Die Soldaten sind Leestes Untergang." Eine volle Woche dauerte der Beschuß. Unser Leben verlief auf engstem Raum, man konnte sich kaum waschen und nur unter großer Angst eine Toilette aufsuchen. lm Vorraum des Burıkers hatten wir für die Kinder einen Eimer hingestellt, wo Sie ihre Notdurft verrichten konnten. Flöhe waren unsere Bunkermitbewohner geworden.
Der Montag war, abgesehen von einigen krepierenden Granaten, ruhig. Wir waren von der Außenwelt völlig abgeschnitten. Es gab keinen elektrischen Strom. kein Telefon, keine Post kam mehr durch. Mein Schwiegervater ordnete am Dienstagmorgen an: „Heute räumen wir unseren Fleischbestand, bevor er vergammelt“- es ging ja keine Kühlung mehr. Es kamen viele Menschen, alle hatten Hunger. Jeder bekam etwas, solange der Vorrat reichte. ln unserer Wurstküche kochten die Soldaten ihre Suppe.
Das alles wurde meinem Schwiegervater zum Verhängnis. Obwohl am Vormittag Gefechtsruhe war, war er es. Der uns in den Bunker trieb: „lch habe so ein ungutes Gefühl, wären wir nur erst durch den Tag." - Er sollte recht behalten. Mittags um i4 Uhr ging das Feuer wieder los. Der Feind, der schon in Hagen war, hatte sehen können. was bei uns llos war und deshalb μnsere Ecke speziell unter ßeschuß genommen. Die Granaten krepierten überall. Kein Haus hatte ein heiles Dach, es gab keine heile Fensterscheibe mehr.
Mein Schwiegervater war tot, ein Grariatsplitter war in die Stirn eingedrungen. Er hat- te nicht mehr gelitten – war gleich tot. ln der Nachbarschaft wurde eine Mutter von vier Kindern tödlich getroffen. Viel Vieh: Pferde. Kühe und Schweine wurden in den Ställen und auf den Weiden getötet. Nach einer halben Stunde kehrte die unheimliche Ruhe zurück.
Wir bekamen für den Toten noch einen Sarg, im Gegensatz zu vielen anderen, die später fielen und für die es nur provisorische Särge gab. Die ganze Woche dauerte der Beschuß, war mal heftiger, mal mit Pausen. In einer Pause sprach ich einen deutschen Major, der den Krieg ebenfalls „satt“ hatte. Er erzählte vom Blutbad in der ehemaligen Sparkasse. Tote und Schwerverletzte gab es dort. Die Verletzten kamen zu-erst in die ehemalige Hördener Schule, von dort nach Rotenburg (Wiimme) ins Lazarett. Am Sonntag, dem 16. April wurden wir endlich eingenommen. Überall waren englische Panzer. Man trieb uns aus dem Bunker, wohl nur, damit die Soldaten ihn durchsuchen konnten. Sie fanden auch etwas. allerdings nur Schmuck u. s. w. Wir, die Kinder an der Hand, von Tieffliegern, den Deutschen, beschossen, gingen dorfabwärts in südliche Richtung. Über zerschossene Licht- und Telefonleitungen, vorbei an aufgedunsenen Tierkadavern: Kühen, Pferden und Schweinen, suchten wir uns einen Weg. Das Dorf brannte an allen Ecken. Am Abend durften wir zurück. Die Leiche des Schwiegervaters stand noch im Schlafzimmer. Auch davor hatten die plündernden Soldaten nicht Halt gemacht. Verwesungsgeruch schlug uns entgegen. Wann würden wir den Schwiegervater beerdigen können?
Der Montag verstrích. Für den Dienstag bekamen wir von der englischen Kommandantur die Genehmigung zur Beerdigung. Mit den Nachbarn, alles ältere Männer. mit Schaufeln und den Sarg auf einen Handkarren geladen, zogen wir, ein trauriger Zug, zum Friedhof. Wir hoben die Grube selber aus. Zu unserem Erstaunen war Pastor Prusse da, der tröstıende Worte sprach. An diesem Tag waren noch viele Beerdigungen, darunter die von Frauen und Kindern. Recht erleichtert, wenn auch traurig, kehrten wir heim. Viel gab es zu tun für uns Frauen. Aufräumen, Schutt beiseite schaffen. . . Und die bange Fra-
ge: Wo ist mein Mann, der Vater der Kinder, im Osten oder im Westen?"