Aus dem Buch der Erinnerung

Erich Rendigs

 

 

 

Meine ersten Erinnerungen reichen weit in den ersten Weltkrieg zurück. Das Elternhaus - eine Dorfschule - stand in dem kleinen Marschendorf Dreye. Es war vor 125 Jahren gebaut worden, ganz den Erfordernissen der damaligen Zeit entsprechend - als Bauern-, Wohn- und Schulhaus zugleich. Die räumliche Aufgliederung entsprach der des niedersächsischen Bauernhauses. Der Straßenseite zugewandt die große Dielentür (Neddendör), die meistens offen stand. Dahinter die Diele mit dem gestampften Lehm. Zur Rechten wie zur Linken Buchten und Stallungen, dann ein paar Wohnräume und ganz am Ende - die gesamte rückwärtige Giebelseite einnehmend - ein großer Klassenraum.

 

 

 

Und oben auf dem Boden lagerten noch gegen Ende der zwanziger Jahre Holz- und Torfvorräte, ferner Heu und Stroh . . . und Korn zum Trocknen. Im Laufe der Jahrzehnte wurde das Gebäude mehrfach umgebaut. Die Diele wurde zum Flur, die Stallungen zu Wohn- und Schlafräumen, und das Vieh erhielt neben dem Hause ein besonderes Stallgebäude.

 

 

 

Die Familie war groß. Sieben Kinder. Das Ge- halt eines Landlehrers klein. Daher betrieben die Eltern, beide aus alten Bauerngeschlechtern stammend, nebenbei noch eine Landwirtschaft: zwei Milchkühe, ein Rind, zwei Zuchtsauen, sechs bis acht fette Schweine, je zwei Schafe und Ziegen, dazu reichlich Federvieh. Dieser Viehbestand vergrößerte sich aber zusehends, wenn sich im Frühjahr von der Kuh bis zur Henne Nachwuchs einstellte. - An manchen Tagen mußte Vater mehr in der Landwirtschaft als in der Schule tätig sein. Wenn z. B. ausgerechnet während des Unterrichts eine der Kühe sich anschickte zu kalben, dann beschäftigte er, unter Aufsicht eines älteren Schülers, die Kinder. Anschließend ging er in den Stall, um der Kuh.beim Kalben beizustehen. Nach gründlicher Reinigung konnte er danach den Unterricht wieder aufnehmen.

 

 

 

So war es auch für die Kinder der Familie selbstverständlich, wenn neugeborene Ferkel, die aus irgendeinem unerfindlichen Grunde von dem Mutterschwein verstoßen wurden, in einer mit Stroh ausgelegten Weidenkiepe neben dem Wärme spendenden Küchenherd Zuflucht fanden und mit der Flasche aufgezogen wurden.

 

 

 

Oft ging es im Sommer an der Hand der Mutter zum Henkenwerder, wo die beiden Kühe des Schulhauses mit denen von einigen Anbauern und Häuslingen gegen Pachtgeld weideten - zehn Minuten Wegstrecke entfernt. Dann nahm Mutter von der Wand das Milchjoch, legte es auf die Schulter, hakte zwei Milcheimer an die Kette und begab sich mit ihrem Jüngsten in Richtung Weide. War es sehr heiß, dann standen die Kühe oft im seichten Uferwasser der Weser. Noch heute höre ich im Traum den melodischen Ruf meiner Mutter: „Komm, Teschen, komm . . .", was sie einige Male wiederholte. - Das Melken geschah in gewohnter Gelassenheit. Drohte aber aus Richtung Kirchweyhe eine dunkle Wolke über die Marsch hinweg sich mitten über der Weide zu entladen, dann ergriff sie schnellstens alles, nahm mich fest an sich, verbarg mich, wenn es schlimmer wurde, unter ihrem weiten Rock vor dem strömenden Regen und eilte mit mir zu der großen Kastanie, die ziemlich weit ab, nahe am Eingangsgatter stand. War das Unwetter abgezogen, ging es ruhig nach Hause. Vorsorglich hatte Mutter noch ein Frühstücksbrett in jeden Eimer gelegt, damit die kostbare Milch nicht überschwappte.